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Verfasst am: 17.05.2007, 11:36 |
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Hier is das erste Kapitel...enjoy and have fun!
C. Frieslich
Kapitel 1
"Du bist verantwortlich für das, was du tust!
"Entschuldigen Sie. Meine Hände sind taub."
"Ach ja?", erwidert der Mann am Steuer des Autos. Er heißt Harry.
"Könnten Sie die Handschellen vielleicht etwas lockerer machen?", frage ich.
"Tut mir Leid, Muttersöhnchen."
"Wenn's Ihnen Leid tut, warum helfen Sie mir dann nicht?"
"Nichts zu machen." Harry trägt einen Cowboyhut und spricht ziemlich undeutlich. Ich sitze auf der Rückbank des dunklen Wagens und sehe nur die Umrisse seiner Schultern und den dicken Hals unter seinem breiten Hut. Meine Hände sind schon seit zwei Stunden hinter meinem Rücken gefesselt, ich spüre sie nicht mehr. Nur noch ein Kribbeln unterhalb der Handgelenke.
"Würden Sie mir bitte sagen, wo Sie mich hinbringen?", frage ich.
Harry antwortet nicht. Das Auto holpert und schlingert durch die Dunkelheit. Bis auf die Lichtkegel der Scheinwerfer auf der staubigen Straße vor uns ist es stockfinster. Die letzte Straßenlaterne haben wir vor mindestens einer halben Stunde gesehen, und vor etwa einer Stunde haben wir das letzte Mal getankt. Steinchen, von den Reifen hochgeschleudert, prasseln an die Unterseite des Autos. Die Klimaanlage brummt und die Scheibenwischer schieben unermüdlich Staub und tote Käfer beiseite.
Die Hände ins Kreuz gefesselt, kann ich auf der Rückbank unmöglich eine bequemere Haltung finden; die Handschellen schneiden mir weiter das Blut ab.
"Als meine Eltern Sie angeheuert haben, haben Sie ihnen da gesagt, dass eine grobe Behandlung im Preis enthalten ist?"
Aus seiner Kopfbewegung kann ich schließen, dass Harry mich im Rückspiegel beobachtet, aber seine Augen bleiben im Schatten des Hutes unsichtbar. "Sag mal, dieses große Haus, wo wir dich abgeholt haben, Muttersöhnchen. Was macht dein Vater für Geschäfte, dass er sich so ein Anwesen leisten kann?"
Er nennt mich Muttersöhnchen, seit er und die Frau auf dem Beifahrersitz neben ihm mich gegen meinen Willen aus dem Strandhaus meiner Eltern geschleppt haben, mit mir zum Flughafen gefahren und in den Bundesstaat New York gefahren sind, um dann den Mietwagen abzuholen, in dem wir jetzt sitzen.
Das würde ich Ihnen mit Vergnügen erzählen, wenn Sie bloß diese Handschellen lockern könnten."
"Netter Versuch." Harry kichert. Die Frau neben mir dreht sich um. Sie heißt Rebecca und ist jünger als Harry. In den acht Stunden, seit sie und Harry mich gekidnappt haben, habe ich erfahren, dass Rebecca noch neu ist in dieser Branche, die sich darauf spezialisiert hat, für Geld irgendwelche Leute zu entführen (Harry ist es natürlich lieber, wenn man ihn "Transporteur" nennt). Rebecca hat dunkle Haare mit blonden Strähnchen und ein hübsches Gesicht. Um ihre Augen und ihren Mund liegt etwas Hartes, dass sie irgendwie müde aussehen lässt.
"Spürst du gar nichts mehr?", fragt sie.
"Nein, die Hände sind total taub. Ich habe Angst, dass ich da einen dauerhaften Nervenschaden kriege oder so was."
Sie wendet sich Harry zu. "Kannst du ihm die Handschellen nicht ein bisschen lockerer machen?"
"Niemals", brummt Harry. "Also wirklich, Süße, du kennst das doch. Du weißt doch, wie das läuft. Regel Nummer eins: Glaub kein Wort von dem, was diese Kids sagen. Wenn du ihm die Handschellen lockerst, wird er uns als Nächstes bitten anzuhalten, damit er am Straßenrand pinkeln kann. Und wie soll er das wohl machen, wenn ihm die Hände auf den Rücken gefesselt sind? Er wird die Gelegenheit nutzen und einfach abhauen, und du musst hinter ihm herrennen und verfluchst deine eigene Dummheit."
Rebecca dreht sich zu mir nach hinten. Sogar im Dunkeln kann ich ihre Unsicherheit spüren.
"Was meint er damit, "Sie kennen das doch"?", frage ich.
"Ich habe das alles selbst erlebt, was dich jetzt erwartet", antwortet sie.
"Warum?", frage ich.
Bevor Rebecca antworten kann, fährt Harry dazwischen: "Halt endlich den Mund, Muttersöhnchen. Das geht dich nichts an."
"Okay, nur noch eine Sache", sage ich. "Ich muss wirklich mal ganz dringend. Aber ich gebe Ihnen mein Wort, dass ich nicht weglaufe."
"Typischer Fall von Manipulation. Alles schon erlebt", sagt Harry mit einer Spur Verärgerung in der Stimme. "Merkst du, wie dein Mitgefühl erwacht, sobald er sich ein wenig umgänglich zeigt? Das kann doch gar kein so schlimmer Junge sein, wie? Gibt dir sein Wort und alles. Ich sag's dir, Süße, mit so was versucht er nur, dich auf seine Seite zu bringen."
Rebecca macht ein ertapptes Gesicht.
"Lass dich bloß nicht einwickeln", fährt Harry mit seinem Vortrag fort. "Der Junge kann jetzt einen auf wohl erzogen machen, aber er hat jahrelange Erfahrung damit, anderen etwas vorzulügen, sie einzuwickeln, alles zu tun, um zu bekommen, was er haben will. Genau aus diesem Grund haben uns seine Eltern ja geholt. Genau aus diesem Grund zahlen sie auch viertausend Dollar im Monat, damit wir ihn dort hinbringen, wo er hingehört."
Rebecca dreht sich wieder nach vorn und starrt stur geradeaus. Ich frage mich, ob sie jetzt wütend ist oder sich gedemütigt fühlt, nachdem Harry ihr demonstriert hat, wie leicht es ist, sich von meiner "bösen" Art manipulieren zu lassen. Schweigend holpern wir die unbefestigte Straße entlang. Ich bin todmüde und würde mich gerne mal ausstrecken. Es war schon nach Mitternacht, als wir auf dem Flughafen Utica gelandet sind. Jetzt muss es bald drei Uhr morgens sein.
"Wie lange noch?", frage ich.
Harry und Rebecca antworten beide nicht. Steinchen knallen weiter an die Unterseite des Wagens. Die Schlaglöcher werden immer größer, und wir schwanken umher wie ein Schiff im Sturm.
"Ich nehme an, Sie glauben mir nich, wenn ich sage, dass ich unbedingt mal austreten muss."
Schweigen.
"Oder wollen Sie mir sagen, mach doch, das ist ja nicht unser Auto, also was soll's?"
Harry greift nach oben und stellt den Rückspiegel ein. Diesmal begegnen sich unsere Blicke. "Halt endlich die Klappe, Muttersöhnchen." Er senkt die Stimme und fügt drohend hinzu: "Sonst..."
Die Fahrt geht noch ein paar Minuten weiter, dann biegt Harry auf eine andere unbefestigte Straße ab. Durch die staubige Windschutzscheibe sehe ich in der Ferne ein paar kleine Lichter, die allmählich heller werden, bis sich dahinter die Umrisse einiger Gebäude abzeichnen.
Wir halten vor einem hohen Maschendrahtzaun, der oben mit Stacheldrahtrollen gesichert ist. Ein Mann kommt aus dem Wachhaus und leuchtet mit einer Taschenlampe in unser Auto. Rebecca hält sich schützend die Hand vor die Augen. Ich kann nur das Gesicht abwenden. Der Mann scheint Harry zu kennen. Er schließt das Tor auf, wir fahren durch, vorbei an einem dunklen Basketballfeld und einer leeren Fahnenstange, und halten auf einem Parkplatz.
"Da sind wir." Harry springt aus dem Wagen, kommt nach hinten und macht mir die Tür auf. Er greift mit einer Hand unter meinen Arm und zieht mich mit festem Griff heraus. Nachdem ich so lange in dieser unbequemen Haltung gesessen habe, sind meine Beine und mein Rücken so steif, dass ich mich nur langsam und unbeholfen aufrichten kann. Zugleich spüre ich aber eine ungeheure Erleichterung, weil die gerade Haltung vorübergehend den quälenden Druck von meiner Blase nimmt, die seit mindestens einer halben Stunde kurz davor ist zu platzen. Ich schüttle die Beine aus und sehe mich um.
"Glaub mir, Muttersöhnchen, du brauchst erst gar nicht auf die Idee zu kommen, von hier wegzulaufen", sagt Harry. "Hier draußen gibt es nur Wald. Du bist hier so weit weg von der Zivilisation, dass du längst verhungert bist, bevor du auf irgendeinen Menschen triffst."
Die Luft ist warm und feucht, es reicht nach Kiefern. Die Grillen sind fast so laut wie der Verkehrslärm einer Stadt. Im Dunkeln kann ich vier oder fünf Gebäude erkennen, keins davon höher als drei Stockwerke. Sieht aus wie ein Internat, und einen Moment frage ich mich, warum meine Eltern so viel Mühe auf sich nehmen, bloß um mich hierher zu bringen.
Aber dann schweigen die Grillen plötzlich.
Und ich höre Schreie.
Fortsetzung folgt
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